by Anno Hellenbroich

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der globale „Krieg gegen Terror“ (George Bush jr.) eine intensive Debatte um das Völkerrecht, um Staat und Souveränität, um Nation und Staatenbund als Wertegemeinschaft („Allianz der Willigen“) entfacht. Der Irakkrieg nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 (in deren Folge zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg der „Bündnisfall“ der Nato- Mitglieder, der ein militärisches Eingreifen der Mitglieder bedeutete,  festgestellt wurde), die „Arabellion“ und der gegenwärtige Syrienkonflikt haben die Fragen des Menschenbilds, die Verteidigung der Menschenwürde in einer Nation und die Souveränität eines Staates (im Konflikt mit Maßnahmen basierend auf der Formel „protective security“) auf den Prüfstand gestellt.

In der Geschichte Europas, gerade nach den schmerzlichen Erfahrungen des 30jährigen Kriegs und der beiden verheerenden Weltkriege, haben die geschichtlich wirksamen Wurzeln des Christentums eine große Bedeutung. In der jüngeren Zeit wurde in den politischen Kulturdebatten immer stärker jedoch die Bedeutung des Christentums negiert oder in zunehmendem Maß der Gottesglaube aus dem gesellschaftlichen Leben in das Private gedrängt. Damit wurde  die positivistische Vernunft fast zur allein herrschenden Weltauffassung erhoben und die Rechtsquellen für Ethos und  Recht verdunkelt. In einer bemerkenswerten Rede des vormaligen Papstes Benedikt XVI vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 verdeutlichte Professor Ratzinger das Dilemma: „Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit.“

Wie stark diese Verdrängung der christlichen Wurzeln des europäischen Staatsgedanken gesellschaftlich dominierend wurde, zeigt die Entwicklung des Vertragswerks der Europäischen Union, des sogenannten Lissabon-Vertrags.  Im Gegensatz z.B. zum Deutschen Grundgesetz von 1949 – die Wunden des Zweiten Weltkriegs waren noch nicht verheilt- wo in der Präambel  der Gottesbezug („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“) verankert wurde, konnte man sich im  Vertrag der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag 2007) nur mühsam und gegen den Einspruch vieler gesellschaftlicher Kräfte, darunter den christlichen Kirchen, auf eine dürre geschichtliche Formulierung in der Präambel einigen („..Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen….entwickelt haben“)

So wird von der Heydtes Darstellung über das Werden des souveränen Staates („Die Geburtsstunde des souveränen Staates“,1952) vor 60 Jahren erschienen, in der anhand vieler zeitgenössischer Schriften aus der Zeit 1300 bis 1450 etwa die Argumentationen in der damaligen Zeit für Krieg und Frieden dargestellt werden, sehr aktuell.

Friedrich August Freiherr von der Heydte greift zentrale Themen des Völkerrechts auf. Er beschreibt den Reichsgedanken, die souveräne Gleichheit, Reich und Papst,  Staat und Völkerrecht, die augustinische Gesellschaftslehre und die Kreuzzugsideologie aus den Schriften der damaligen Zeit. Der Autor setzt sich mit dem Widerstandsrecht gegen Tyrannenherrschaft  („Legitimität und Illegimität: Das Problem der Revolution“) auseinander; aber auch damit, wer Staatsbürger, wer  Fremder ist. Seit der globalen „Kriegsführung gegen Terror“ haben die Vorgänge in den amerikanischen Gefangenlager Abu Ghraib und Guantanamo die Welt erschüttert. Die Auseinandersetzungen vor 700 Jahren, einschließlich der Kreuzzugsideologie, erhalten nun eine beklemmende Gegenwart.

 Naturrecht

Ein zentrales Thema von der Heydtes ist der Verweis darauf,  dass jede der damals neu entstehenden Rechtsordnungen im Denken des Mittelalters als Ableitung des ewig unveränderlichen, göttlichen Rechts und seiner Anwendung auf bestimmte, wechselnde menschliche Lebensformen zu sein schien.

Als Ordnungsprinzip der Welt, als „ewiges Gesetz“ (Lex aeterna)  ruht dieses eine Recht in Gott, ist göttlicher Geist, göttlicher Gedanke (Savigny), als „Naturrecht“ (Lex naturalis) ist es die Teilhabe des Menschen  an diesem göttlichen Gedanken, ist es das von Gott  in das Herz des Menschen gelegte Gefühl für diese Ordnung, schreibt von der Heydte. Von der allen gemeinsamen Grundlage dieses Naturrechts  her, die jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen in sich erkennt, ohne dass es eines Beweises bedarf, muss die menschliche  Vernunft durch logische Schlussfolgerung oder nähere Bestimmungen der allgemeinen Gesetze zur Ordnung der einzelnen Lebensverhältnisse vordringen. Eine solche Ordnung  richtet sich nach dem „Gemeinwohl“ (Bonum Commune) aus, wie Thomas von Aquin lehrt, und wird von  demjenigen, dem die Sorge für die Gemeinschaft übertragen ist, geprägt.

Richtungsweisend für die ganze spätere Zeit ist die Auffassung Thomas von Aquins vom Völkerrecht („Ius gentium“) geworden. Das „Ius gentium“ wird so genannt, weil es  fast alle „gentes“, alle Stämme, alle Menschen benutzen. Zu dem von Thomas von Aquin gelehrten menschlichen Recht gehören die Normen, die vom Naturecht  abgeleitet  werden  und ohne die die Menschen gar nicht zusammenleben können.

Der abendländische Mensch des ausgehenden 13. und des beginnenden 14. Jahrhunderts denkt im Sinne der aus Völkern bestehenden und nach Völkern gegliederten Menschheit, die Völkergemeinschaft als Friedensgemeinschaft, basierend auf der Idee einer allen Menschen ins Herz gelegten, alle Menschen bindenden Naturrechts. Die Normen dieses Naturrechts gelten in gleicher Weise für Christen und Heiden.

Von der Heydte  resümiert, dass die Geburtsstunde des modernen Staates und der Beginn zwischenstaatlicher Beziehungen in einen Zeitabschnitt fallen, wo die Praxis der werdenden Staaten von einem Denken im Recht und von Rechtsbegriffen beherrscht wird.  Römisches Recht und Ius gentium sind in Theorie und Praxis nicht nur die Vorläufer des modernen Völkerrechts, sondern gleichzeitig auch  der Boden, auf dem die moderne Staatslehre  entstand.

   Gemeinwohl

In der Darstellung des Werdens des souveränen Staates betont von der Heydte die überragende Rolle des großen Denkers Thomas von Aquin. Aus heutiger Erfahrung der menschlichen Gesellschaftsentwicklung gewinnt dabei das Konzept des „Gemeinwohls“ (Bonum commune) die herausragende Bedeutung in einer Wertegemeinschaft. Für Thomas von Aquin ist „Gemeinwohl“ ein Gut. Der Wert der Gemeinschaft, der für alle bestimmt ist, ist also „gemeinsames Gut“ (Befriedigung der Lebensbedürfnisse jedes Einzelnen). Gemeinwohl ist für Thomas von Aquin  nicht nur der irdische Wert der Gemeinschaft, sondern darüber hinaus stets auch das allen gemeinsame Gut der ewigen Seligkeit  jedes Einzelnen – ein im Jenseits liegendes Bonum.

Gemäß Thomas  von Aquin tragen die Herrscher die Sorge, für das Gemeinwesen zu sorgen und der Schutz der Gemeinde oder des Königreichs oder des Landes, die ihnen  untertan sind  gehört zu seinem Aufgabenkreis. Ihnen steht es zu, das Gemeinwesen von innen und außen zu schützen. „Der Erhaltung des Friedens und der Ordnung dient die innere Organisation des werdenden Staates.“ Der  Friede als christliches Ziel gibt der Souveränität sittliche Berechtigung, dem Herrscher Legitimität. Er hat keinen Oberen über sich und  bleibt als König  den Gesetzen unterworfen.

Das Gemeinwohl ist gemäß Thomas von Aquin  die sittliche Begründung der Herrschaft. Der  Fürst ist erster Diener des Volkes. Hier deutet sich der Gedanke der Volkssouveränität an. Die  Anerkennung des Herrschers durch den Papst und Volk verleiht ihm Legitimität. Souveränität bedeutet 1. Die Forderung der Souveränität nach außen, die keinen Höheren auf Erden anerkennt; 2.Souveränität nach innen, die auf dem begrenzten Territorium des werdenden Staates das Recht des Kaisers für sich beanspruchen; 3. der Grundsatz der Gleichheit aller souveräner Herrschaftsverbände in ihrer Vielheit. Gemäß Thomas von Aquin sind der Wille und das Wohl des Volkes der Grund für die Herrschaft des Fürsten.

Reflexionen heute: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“

Im Februar 2011 fand Kardinal Péter Erdő, Vorsitzender der Europäischen Bischofskonferenz, an einem geschichtsträchtigen Ort, dem Kaiser Karl dem Großen gewidmeten Dom in Aachen, bemerkenswerte Worte über die Aktualität dieser Gedanken. Er merkte an, dass hinter den historischen Ausdrucksformen der verschiedenen Herrschafts- und Rechtsordnungen eine grundlegende Wahrheit anzunehmen ist: „Alt ist die Idee der Gottesbeziehung der weltlichen Herrscher, tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Es scheint aber fast allgemein in der menschlichen Geschichte, dass sich Herrschaft und Recht eine besondere Beziehung zum Übernatürlichen beanspruchen. Das alles kann uns, westlichen Menschen des 21. Jahrhunderts, und zwar nicht ganz unberechtigt, als eine alte Form von Herrschaftsideologie vorkommen. Weil aber dieses Phänomen in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften so allgemein verbreitet war, können wir doch mit Fug und Recht vermuten, dass hinter den historischen Ausdrucksformen eine grundlegende Realität steckt.“

„Die großen gesetzgeberischen Werke der Vergangenheit, angefangen mit dem Gesetzbuch von Hammurabi, fortgesetzt sogar in der christlichen Ära mit dem Codex Iustinianus, oder mit dem Gesetzeswerk des heiligen Stephan von Ungarn, beginnen mit irgendeinem Bezug auf Gottheit und Religion. Die Funktion dieser Einleitungen ist einerseits die Begründung der Autorität des Gesetzgebers, andererseits aber der viel tiefere Anspruch, eine souveräne menschliche Gesellschaft in den Zusammenhang des Kosmos und der übernatürlichen Welt, also des gesamten Seins zu stellen. Und aus dieser Sicht haben auch die alten Herrschaftstraditionen ihre Bedeutung bis heute nicht ganz verloren.“

In den vergangenen Jahrzehnten mussten Führungsmächte, die USA zusammen mit ihren Verbündeten, Russland und andere imperiale Staaten immer wieder feststellen, dass Versuche, „von außen“  Demokratie in „failed states“ zu bringen,  selten erfolgreich waren. Zu stark sind geschichtsprägende Traditionen, Kulturauffassungen und auch korrupte Mechanismen jener Länder, die solche kurzatmigen militärischen Interventionen  immer wieder scheitern lassen.

Recht und Unrecht

 „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hatte Augustinus in seinem „Gottesstaat“ geschrieben. In seiner mahnenden Rede vor dem Deutschen Bundestag hat der damalige Papst Benedikt XVI erneut auf die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, wie kann der Mensch ein Kriterium für seine Entscheidungen finden, den anwesenden Politikern ins Gewissen geredet. Zu Beginn seiner Rede hatte Papst Benedikt das Zitat von Augustinus gestellt und entwickelte dann folgende Gedanken:

„Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, dass sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben…Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so dass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen…Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen.“

Das Wachstum der Weltbevölkerung, das Selbstbewusstwerden der vielen Völker und Religionsgemeinschaften, verlangen Prinzipien, die ein friedliches Zusammenleben in Zukunft ermöglichen. Dies ist umso bedeutsamer, da Nationalstaaten immer stärker für das Gemeinwohl der eigenen und der globalen Gesellschaft in die Pflicht genommen werden, und damit globale Allianzen und Staatenbünde schließen müssen. Die großen Fragen der Souveränität, die Frage der Gerechtigkeit und des Rechts, sind von außerordentlicher Aktualität.

Aus dem „tiefen Brunnen der Vergangenheit“ zu schöpfen erlaubt das materialreiche Buch Professor von der Heydte’s. In seiner Schlussbetrachtung nimmt von der Heydte Bezug auf eine wichtige Erkenntnis über das mittelalterliche Völkerrecht, die für die heutige global agierende Weltpolitik so wichtig ist: „Man hört oft die Meinung vertreten, im Mittelpunkt eines mittelalterlichen Völkerrechts stehe die Lehre vom gerechten Krieg. Solche Behauptung erfasst, so scheint mir, keineswegs das Wesen mittelalterlichen Völkerrechtsdenkens- Das Völkerrecht des Mittelalters war Friedensrecht seinem Inhalt wie seiner Zielsetzung nach.“

 

Die Geburtsstunde des souveränen Staates. Ein Beitrag zur Geschichte des Völkerrechts, der allgemeinen Staatslehre und des politischen Denkens. J. Habbel Verlag, Regensburg 1952.

 

 

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